von Marie
J. erkrankte als Kind an Diabetes. Anlässlich des heutigen Welt-Diabetes-Tages erzählt er uns über seine Erfahrungen mit der Erkrankung und wie er gelernt hat, mit ihr umzugehen.
Ich freue mich sehr, dass du mich heute beim Lesen ein Stück begleiten möchtest. Ich zeige dir einen Teil meines Weges - meines Lebens - dass mich auf ganz besondere Weise geprägt und herausgefordert hat.
Komm mit in meine aufwühlende Kindheit, meine turbulente Jugend und in das heutige Leben mit einem Alltag, der doch nicht ganz so alltäglich ist. Denn Diabetes macht keine Pause. Diabetes verändert das Leben.
Es ist Sommer und ich bin 8 Jahre alt. Ich habe Freunde, ich habe Spaß am Leben. Ich fühle mich wie jedes andere Kind auch. Meistens jedenfalls.
Da ist so ein komisches Gefühl im Bauch. Morgens vor allem.
Mir ist oft schlecht, ich fühle mich auch nicht so ganz normal. Das Essen fällt mir schwer und mein Körper funktioniert nicht so, wie ich das kenne. Aber das lässt wieder nach. Es lässt immer nach. An vielen Tagen ist am Nachmittag wieder alles gut! Mama ist erleichtert. Papa sagt nicht viel dazu. Ich denke er glaubt mir nicht.
Jeden Tag geht es mir morgens immer schlechter. Was für ein fürchterliches Gefühl! Ich gehe mit Mama zum Arzt und hoffe, dass er mir helfen kann. Konnte er bisher ja auch immer. Mama scheint aber nicht so zufrieden zu sein.
Die Bauchschmerzen werden nicht besser. Und ich habe seit ein paar Tagen fürchterlichen Durst! Stell dir das vor! Sofort nach dem Trinken willst du wieder was Trinken. Mir tut schon der Bauch weh von so viel Flüssigkeit, aber der Durst ist trotzdem nicht weg. Außerdem muss ich davon dauernd auf die Toilette. Wie sehr das nervt, kannst du dir sicher vorstellen.
Heute ist wieder so ein Tag. Ich will nicht aufstehen. Ich bin müde und erschöpft und mir ist so unendlich schlecht! Ich habe schon fast eine ganze Flasche Wasser getrunken und kann trotzdem nicht aufstehen. Ich habe Mama gesagt, dass ich Zuhause bleiben will. Sie sagt, sie glaubt mir.
Papa aber nicht. Er war richtig sauer vorhin. „Wer nachmittags spielen kann, der kann auch in die Schule gehen!“
So oder so ähnlich fing das alles an. An vieles kann ich mich schon gar nicht mehr so genau erinnern, aber manche Worte, manche Tage und Erlebnisse bleiben einfach in Erinnerung.
Einige Zeit später hat meine Mama die richtigen Schlüsse gezogen. Eine Fernsehreportage berichtete über die Erkrankung Diabetes. Und plötzlich ergab das alles irgendwie Sinn. Mama ging mit mir erneut zum Kinderarzt. Und dieses Mal bestand sie darauf, dass mein Blutzucker untersucht wird.
Eindeutiger hätte das Ergebnis nicht sein können.
Und hier stand ich. Bis eben noch ein ganz normaler 8-jähriger Junge und doch war alles anders. Mit Tausend Fragen im Kopf war meine Welt ab jetzt irgendwie ganz anders…
Es folgten viele Monate, in denen ich immer wieder Wochen im Krankenhaus verbrachte. Sich mit meinem Diabetes auseinanderzusetzen wurde Alltag und schlicht eine Notwendigkeit, der ich mich nicht widersetzen konnte.
Blutzuckermessen, Insulin spritzen, mein Essen schätzen und berechnen lernen, Sport und Bewegung gut abschätzen müssen und irgendwie den Alltag meistern gehörten jetzt dazu. Neben den ganzen Aufgaben, die ein gesundes Kind in dem Alter sonst so hat!
Meinen Mitschülern blieb natürlich nicht verborgen, dass ich lange Zeit gefehlt habe. Sie fragten, wo ich war und warum ich ins Krankenhaus musste. Sie waren neugierig auf das, was ich so tat und wie ich mich spritzte.
Keinen hat es besonders interessiert, dass ich ein bisschen anders bin. Sie waren nur neugierig und verurteilten mich nicht. Im Lauf der Zeit freuten sie sich darauf mit mir die Pause drin verbringen zu dürfen, da ich die Pause nutzte, um meinen Blutzucker zu kontrollieren und etwas zu essen. Um nicht allein zu sein, durfte ich mir immer jemanden aussuchen, der mit mir im Schulgebäude blieb.
Etwas später in meinem Leben erzählte meine Mama mir davon, dass es ein Ferienlager für Kids wie mich gibt. Das habe ich sehr genossen, als ich mich endlich überreden ließ dort hinzufahren.
Zum ersten Mal konnte ich mit Gleichaltrigen sprechen, die dasselbe Schicksal teilen. Ich fühlte mich endlich nicht mehr allein. Mir wurde klar, dass es auch anderen so geht wie mir. Ich lernte in diesem Ferienlager die Insulinpumpe kennen, die ich vorher strikt abgelehnt habe. Ich konnte sie für mich in Ruhe austesten und entschied mich schließlich dafür.
Die Pumpe erleichterte mir fortan den Alltag. Bis heute bin ich Pumpenträger und habe mich damit arrangiert.
Das ist selbst ohne Diabetes schon eine alltägliche Herausforderung, wenn die Gefühle Achterbahn fahren und man eigentlich nicht so genau weiß, wer man ist und was man will. Für mich war – wie für andere Betroffene auch – die Phase der Jugend von wechselnden Emotionen geprägt. Zwischen Akzeptanz und Verleugnung, diversen Warum-Fragen und Wut über das Schicksal lernte ich selbstständig zu werden und testete die Grenzen meines Körpers aus.
Meine Mutter war sehr fürsorglich – auch oder gerade wegen meiner Erkrankung. Ich habe mich lange auf sie verlassen und mit meinem Auszug, also einer eindeutigen Distanz, gelernt Verantwortung für meinen Körper und meine Gesundheit zu übernehmen.
Auch heute noch ist mein Alltag geprägt von Besonderheiten rund um meine Erkrankung. Dennoch habe ich gelernt mein Leben nicht nach meinem Diabetes auszurichten, sondern ihn zu akzeptieren und weitestgehend zu beherrschen. An manchen Tagen gelingt mir das besser als an anderen, aber im Großen und Ganzen bestimmt mein „Zucker“ nicht meinen Alltag. Ich habe mich nicht einschränken lassen und lasse mich auch heute davon nicht zurückhalten.
Meine Arbeit ist abwechslungsreich, unvorhersehbar und für mich genau das Richtige. Ich arbeite im Gesundheitswesen.
Bei genauer Betrachtung komme ich allerdings nicht umhin festzustellen, dass die vielen Krankenhausaufenthalte und der ständige Kontakt zu immer gleichen Ärzten und Krankenhausmitarbeitern meine berufliche Entscheidung beeinflussten.
Eine meiner Ärztinnen aus Kindheitstagen wurde zu einer geschätzten Kollegin, die ich in meinem Beruf als Notfallsanitäter fachlich erneut schätzen gelernt habe.
Auch wenn ich immer wieder in Situationen gerate, in denen mich mein Körper an meine Erkrankung erinnert, so kann ich doch behaupten meinen Frieden damit geschlossen zu haben.
Wir danken Dir für Deine Zeit und Deine Offenheit.
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Vivienne
Vivienne hat 2018 ihre Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin abgeschlossen und danach Illustrationsdesign studiert. Während ihres Studiums war sie als Leasingkraft in verschiedenen Einrichtungen in Berlin tätig.
Marie
Marie ist examinierte Kinderkrankenpflegerin, war nach ihrer Ausbildung im Leasing tätig und landete danach als Fachkraft auf der Intensivstation. Mittlerweile arbeitet sie als Rettungsassistentin und studiert Gesundheitspädagogik.
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